Lost in Train Station
Manchem Traveller könnte es bereits vor der Reise mulmig werden, wenn er sich die Dimensionen von Tokios öffentlichem Verkehrsnetz vor Augen führt. 636 Bahnhöfe besitzt die Präfektur, darunter den größten der Welt – Shinjuku. Fahrgaststatistiken klingen ungeheuerlich: Zu Stoßzeiten passieren ihn 500 Pendler pro Sekunde, die auf einem der 35 Bahnsteige ein- oder aussteigen. Aber hatte uns dieses Wissen davon abgehalten, die Bahn zu nehmen anstatt ein Taxi? Natürlich nicht. Obwohl mit großem Gepäck unterwegs nahmen wir die Herausforderung an. Und freuten uns im Nachherein über ein prickelndes Abenteuer. Zudem entpuppte sich dabei mein Faible für Tokioter Großbahnhöfe. Denn, wenn man es packt, auf Anhieb den richtigen Ausgang bzw. Bahnsteig zu finden, beschert das ein Glücksgefühl wie nach erfolgreich absolviertem Marathon. Shinjuku Station hat nämlich zweihundert Exits im Angebot.
Die erste Bekanntschaft mit Shinjuku liegt etwa 25 Jahre zurück. In den Unterlagen vom Park Hyatt war vom Shuttlebus die Rede. Doch von wo genau er abfahren sollte, stand nicht dabei. Die Lösung routinierter Reisender: Einer bleibt beim Gepäck auf dem Bahnsteig, der andere sucht. Ich war der andere, lief los und trabte durch ein unfassbares Labyrinth. Rolltreppe hoch, in Rechtslinks-Kombinationen immer der Nase nach durch breite Gänge mit bunt beleuchteten Geschäften und Fastfood Lokalen, noch eine Rolltreppe und ich stand in einer riesige Halle. Vor lauter Menschengewimmel und Reklamevideos war kein Ausgang zu entdecken. Schließlich der Schritt ins Freie. Unglaublich, aber wahr: Da wartete tatsächlich der Shuttlebus. Die Freude währte kurz. Denn im Umkehrschwung stellte sich die Frage: Wie in aller Welt sollte ich meinen Liebsten auf dem Bahnsteig wiederfinden? Zwar leiten Hinweisschilder in lateinischen Buchstaben zu den Bahnsteigen der vierzehn Subway- und Bahnlinien. Aber mit welchem Zug sind wir gekommen und wo gelandet? Heutzutage könnte ich ihn mittels App orten. Damals gab es noch nicht mal ein Handy.
Shinjuku ist nicht der einzige Riesenbahnhof im Stadtbereich. Ein weiterer ist Shibuya, berühmt für die geschäftigste Fußgängerkreuzung der Welt. Sie liege direkt vor der Station, hieß es. Aber wo genau? „Folgen Sie den Schildern Hachikō“, empfahl der Hotelconcierge. Wahrscheinlich gibt es keinen Japaner, der Hachikō nicht kennt. Aber woher sollte ich wissen, dass damit ein Hund gemeint ist? Erst viele Treppen, Tunnel und Shops später entdecke ich den Namen auf einem Schild, darüber die schwarz gezeichneten Umrisse eines sitzenden Vierbeiners. Ein paar Schritte weiter auf dem Bahnhofsvorplatz thront er tatsächlich auf hohem Podest – ein Schnauzer, in Bronze gegossen und von fotografierender Menschenmenge umringt. Und die ist kaum kleiner als die durcheinander Spurtenden auf gesuchter Kreuzung, sobald alle sechs Ampeln auf Grün schalten. Warum aber erregt dieser Hund derartige Aufmerksamkeit? „Zu Lebzeiten hatte Hachikō sein Herrchen täglich zur Station begleitet“, erklärte ein junger Mann in einwandfreiem Englisch, „und bis zum Abend auf seine Rückkehr gewartet. Egal ob Hitze, Schnee oder Regen“. Und weiter? Eines Tages kehrte Herrchen nicht zurück. Doch der Hund, die treue Seele, harrte aus bis der Tod ihn erlöste. Kein Wunder, dass das Tier legendär ist. Aufopfernde Treue nimmt in der japanischen Kultur bekanntlich einen prominenten Platz in Geschichte und Gegenwart ein. Davon sprechen Schriften über tapfere Samurai und Kamikaze Piloten ebenso wie Schicksale heutiger Manager. Dabei fällt mir unser damaliges Abenteuer in Shinjuku Station wieder ein. Glücklicherweise saß mein Liebster noch putzmunter auf dem Bahnsteig, als ich ihn schließlich wiederfand.